Mai 2024 | Tagliamento

Erstes Nachtlager am Tagliamento | Foto: Tobias Röckl

Als „Der letzte echte Wildfluss der Alpen“ wird er von den großen Paddeltourenanbietern beworben. Wild und ursprünglich und einzigartig grünblau. Eine mäandernde Urader, entspringend in den Friauler Dolomiten und mündend bei Bibione in die Adria. Für Paddler ein wildes Paradies unterm offenen Sternenhimmel. Mit einem Namen, der wie ein Italowestern klingt: Tagliamento. Es gibt nur eine Unwägbarkeit, eine Unberechenbarkeit, es gibt da nur diese eine unausweichliche Sache, die allen wildromantischen Vorstellungen den Garaus macht, die jede noch so genaue Planung hinfällig werden lässt, die alle noch so motivierten und ausgerüsteten Paddler zum Weinen bringt, und diese eine Sache ist – der Wasserstand. Denn der ist meistens genau in den wenigen Monaten, die sich für eine autarke, mehrtägige Tour eignen, einfach fast immer zu niedrig!

In manchen Jahren ist der Pegel zwischen Mai und September sogar so niedrig, dass aus einem grünblauen Tagliamento nur noch ein blasses Rinnsal wird, auf dem ein Paddeln kaum möglich ist. Boote müssen dann getreidelt werden, manchmal nur noch über den Kies geschleift. Es gibt da auch diese eine berüchtigte Stelle, an der im Sommer der Tagliamento einfach versiegt. Versiegt. Wasser Ende. Niente.

Zu wenig Wasser? – Nicht in diesem Jahr! Der Tagliamento auf der Höhe von Venzone | Foto: Tobias Röckl

Aber es gibt ja Statistiken, es gibt Apps und all Wochen vorher kann man gefühlt gar nichts die Pegelaufzeichnungen der letzten Jahre, sagen. Im April zeigen einige Male die Pegel und so kann man dann doch mit einer allerhöchstes Hochwasser. Richtig viel. Es hat gewissen Wahrscheinlichkeit sagen, dass es im Mai funktionieren könnte. Zugegeben, der Winter zuvor war nicht sehr schneereich, also viel Schmelzwasser wird nicht fließen, vielleicht hat man Glück und ein Regentief liefert ein paar Tage vor Tourstart noch ein paar Liter. Es könnte – wie gesagt, mit etwas Glück – genug oder zumindest ausreichend Wasser geben.

Wir gehen vom Besten aus und beginnen zu planen: Wer fährt mit und mit welchen Kajaks? Wie viele Tage überhaupt und was essen wir? Wo gehen wir aufs Klo, wo steigen wir ein, wo steigen wir aus? Wie machen wir das mit Trinkwasser? Warst du schon mal da? Nee. Du? Nee. Flussführer werden gelesen, Websites durchforstet, jedes YouTube-Video gesichtet und lange Ausrüstungslisten erstellt. Das läuft alles ziemlich gut. Und der Wasserstand?

Wochen vorher kann man gefühlt gar nichts sagen. Im April zeigen einige Male die Pegel allerhöchstes Hochwasser. Richtig viel. Es hat lange geregnet und es kommt auch etwas Schmelzwasser aus den Bergen dazu. Aber man weiß auch, dieses Wasser wird bald wieder abgeflossen sein, und wir können nur hoffen, dass für uns ein halber Meter übrig bleibt. Wie erwartet ist dann schon zwei Wochen später der Pegel wieder deutlich gefallen. Wenn das so bleibt, noch alles ok. Weniger bitte nicht.

Eine schöne Überraschung gibt es zwei Wochen vorher. Denn es regnet so richtig ordentlich, der Pegel steigt und wir können sicher sein, dass auf unserer Tagliamento-Tour nicht getreidelt werden muss. Jetzt ist ein guter Pegel safe. Es wird gepaddelt! Eine weitere Überraschung gibt es aber schon eine Woche später. Die ist weniger schön. Es regnet nämlich jetzt noch mehr. Und hört auch nicht mehr auf. Es regnet viel, sehr viel, der Pegel steigt. Enorm. Hochwasser! Zwei Tage vor Abfahrt sind die Nachrichten aus Italien überhaupt gar nicht buono. Hochwasser, Überschwemmungen, der Friaul säuft ab! Eine Zeitung betitelt ihre Ausgabe mit „Invaso dall’acqua“ – vom Wasser überflutet. Viele Fragen. Laut Wetterberichten hört es zwar bis zum Wochenende auf zu regnen, aber diese Mengen an Wasser! Wird sich der Pegel so schnell wieder normalisiert haben, dass wir überhaupt paddeln können? Plötzlich sorgen wir uns nicht mehr um zu wenig Wasser. Im Gegenteil. Abwarten. Stündlicher Pegelcheck. Stündlicher Wetterbericht. Es ist alles bereit, wir sind alle bereit, und absagen wäre frustrierend. Aber hinfahren und dann wegen Hochwassers gar nicht fahren können? Noch frustrierender. Da! Ein Zentimeter weniger in der River-App! Wir fahren!

Das gesamte Paddelteam | Foto: Anett Glasebach

Das Basecamp schlagen wir am Campingplatz in Gemona auf. Ein guter Ausgangspunkt. Supermärkte für die letzten Verpflegungseinkäufe ganz in der Nähe und nur gut 10 Minuten vom Einstiegspunkt in Venzone entfernt. Allerdings ist die allererste Erledigung kein Einkauf und kein Cappuccino, sondern die Begutachtung des aktuellen Pegels vor Ort. Auch wenn der Regen mittlerweile aufgehört hat und der Wetterbericht nur Sonnensymbole zeigt, der Tagliamento ist hoch, sehr hoch. An der Einstiegsstelle ist das Flussbett fast 200m breit und es ist randvoll. Viele Hundert Kubikmeter Wasser strömen als beige-graue Suppe mit ordentlich Wucht durch die norditalienische Landschaft. Das wird ein Spaß.

An einer zweiten Stelle einige Kilometer weiter flussabwärts bekommen wir dann eine noch deutlichere Vorstellung von der Kraft, mit der sich die Wassermengen über Stufen, Schwellen und Bauminseln, die sonst auf den Trockenen sind, schieben. Dort, wo der Taglimento viel Gefälle hat, stürzt und schäumt und strudelt es. Mit Wildwasserkajaks wäre das ein richtiger Spaß. Wie wird das mit unseren langen Tourenkajaks, vollgepackt mit Equipment, Wasser und Essen bis zum Süllrand und 40kg schwer? Das wird ein Spaß. Hoffentlich. Der Abend kommt und vergeht bei Rotwein und Campingplatzpizza. Der Zeitplan, die Etappen stehen, alles ist bereit. Noch eine Nacht. Morgen, Kaffee, Croissants, aufsatteln, auf zur Einstiegsstelle bei Venzone. Das Wetter ist schön, fast schon heiß. Der Pegel ist hoch. Laut App kaum gefallen. Jetzt gibt es kein Zurück. Wir laden die Boote ab. Jeder für sich verstaut seine eigenen sieben Sachen, Proviant und Wasser werden verteilt. Die Boote füllen sich zusehends. Mal ein kurzer Test und anheben. Scheiße. Das ist schwer. Die Sonne scheint. Es ist gegen Mittags, als wir frohen Mutes einbooten. Der Tagliamento erinnert an die Isar. Nur bei Hochwasser. Und ein bisschen breiter und ein bisschen höher. Und ein bisschen unbekannter.

Wo geht’s hier weiter? Verzweigte Flussarme auf dem Taglimaneto | Foto: Dieter Sasnow

Spätestens jetzt versteht jeder von uns, dass ein langes Boot mit ordentlich Zuladung ein ganz anderes Fahrgefühl bietet als man das von Zuhause gewohnt ist. Träge, plump, schwerfällig. Alles andere als wendig. Wir kommen gut voran, sind überrascht von der Wucht und der Geschwindigkeit, mit der wir unterwegs sind. Ahnung, wo es langgeht, hat keiner und der Vorderste ist nicht zu beneiden auf seiner Suche nach der richtigen Linie. Manches Mal fühlt es sich an, wie auf einer Scheibe zu paddeln, wo das Wasser zu jeder Seite ins Nichts stürzt. Alles ist nur breit und weit, die Sonne blendet und die Boote sind schwer. Am rechten Ufer rauschen wir durch sich überwerfende Wellen, wo sonst Buhnen das wenige Wasser mehr zur Flussmitte schicken sollen. Irgendwann ändert sich das gesamte Bild. Der Tagliamento wird noch weiter und das viele Wasser verzweigt sich zigfach. Eine Etappe mit vielen umgestürzten Bäumen und einem Labyrinth aus Holzverhauen. Schwierig, die richtige Linie zu finden. Weil weiter unten linksufrig ein Wehr angekündigt ist, halten wir uns rechts. Vielleicht zu weit rechts, denn irgendwann sind wir in einem kleinen verwaldeten Abschnitt mit kurzen, seichten Gefällestrecken, wo wir einerseits befürchten müssen, aufzusitzen, während andererseits die Strömung direkt in den Holzverhau führt. Und diese langen Kajaks machen es uns nicht leichter. Plötzlich ruft jemand. Schwimmer! Wir nehmen es sportlich. Verständigen uns über die Kiesinseln hinweg. Alles ok? Alles ok.

Wieder auf dem Trockenen | Foto: Dieter Sasnow

Mal führt uns die Strömung ganz nach links, dann wieder ganz nach rechts. Was wir einmal als Strömungslinie vermuten, entpuppt sich als riesiges Kehrwasser. Es ist schwierig, sich auf diesem Gleich an grauem Geschwappe zu orientieren. Bald taucht die Ponte Braulins mit einer sich über die gesamte Flussbreite erstreckenden Sohlschwelle vor uns auf. Auf YouTube gibt es davon ein Video, auf dem die Paddler die Boote hinuntertragen und über die Steine heben müssen, weil der Wasserstand so niedrig ist. Heute nicht bei uns.

Wir müssen Hunderte Meter vorher aussteigen und die Stelle besichtigen: All das Wasser des Tagliamento schiebt sich unmittelbar vor der Ponte ganz nach rechts und vier mächtige Wellen erschweren uns die Linie. Von Land aus erkennen wir aber, dass wir genau durch diese Wellen hindurch müssen, um dann konzentriert durch den ganz rechten Brückenbogen zu schießen. Mitsamt Hauptwasser.

Nach kurzer Absprache mit der Gruppe geht es los. Eigentlich geht der Plan auf und wir alle reiten die Wellen gut ab treffen die Ideallinie. Überraschend rüttelig ist allerdings das Gerutsche über die Sohlschwelle, wobei einige von uns Steinkontakt haben. Einer dieser Steine wird einem Kajak zum Verhängnis, es verblockt sich, stellt sich quer. Schwimmer! Wir sind im Unterwasser, keine große Gefahr, Schwimmer wird geborgen, das lange, vollgepackte Kajak ist aber störrisch und es dauert ein paar längere Momente, es endlich ans Ufer zu bekommen. Kurz verschnaufen bevor es weitergeht. Schon bald darauf zeigt sich mit der Autobahnbrücke der A23 die nächste Landmarke. Auch hier hat man, um das natürliche Gefälle des Tagliamento zu zähmen, hintereinander drei lange Steinwälle gesetzt. Bei Normal- oder Niedrigwasser eine Stelle, die zwar zum Tragen zwingt, aber eigentlich nach ein paar Minuten erledigt ist. Bei unserem Wasserstand aber müssen wir rechtzeitig vorher rechts anlanden und dann die Kajaks durch matschiges und holpriges Gelände und Gestrüpp gute 200m zum Unterwasser tragen. Am Ende kostet es uns viel Kraft und Zeit, denn wir brauchen vier Mann pro Kajak, um die schweren Dinger zu umtragen.

Abendessen am Feuer | Foto: Tobias Röckl

Wann ist der richtige Zeitpunkt, einen Schlafplatz zu suchen? Lieber eher, als später. Wir sind müde. Die Schwimmer, die langen Umtragen und nicht zuletzt das anstrengen Paddeln der schweren Boote. Könnte das ein guter Platz sein? Oder dort? Auf so einer Insel vielleicht. Oder dort besser am Ufer. Schwer, an Land zu kommen bei dem Gestrüpp. Wenn man sucht und nicht findet, macht Suchen keinen Spaß. Eine Landstraßenbrücke quert den Tagliamento und stützt sich in der Mitte auf eine große Insel mitten im Fluss. Das könnte doch schön sein. Leider führt gerade der verdammte Flussast eher weg davon. Aber hier geht’s nach links. Shit. Eine Kiesbank dazwischen.

Wir passieren die Brücke. Die Insel links von uns ist bald zu Ende. Wenn nicht jetzt, dann nicht mehr. Da, eine kleine Rinne nach links. Nur zur dieser Kiesbank da vorne, dann aussteigen, kurz durch Wasser waten. Unser Schlafplatz für die Nacht. Zelte etwas erhöht auf einer kleinen Grasfläche, Lagerfeuer unten am Kies. Unser Abendessen sind Wraps mit Gemüse, Bratwürste und Wein, Wasser, Bier. Klingt bunt gemischt, schmeckt herrlich. Jetzt vollgefuttert und müde spüren alle den Tag in den Knochen. Zwei von uns wünschen sich morgen aufzuhören. Es ist doch mehr Strapaze als gedacht. Die Kenterungen haben zusätzlich Kraft und Nerven gekostet. Diese Nacht also noch, dann morgen Exit. Wir überlegen wie und wo. Die Nacht kommt. Einige sind schon im Zelt. Andere ruft der Wein.

… und danach der Wein | Foto: Tobias Röckl

Frühstück. Sonne. Es wird schnell heiß. Wir packen. Der Pegel fällt. Wir können es an unseren Booten sehen. Sie liegen jetzt etwas weiter entfernt vom Wasser als gestern noch. Und mit jedem Zentimeter, den der Pegel sinkt, bekommt der Tagliamento ein klein wenig diese so berühmte grünblaue Farbe zurück. Noch nicht ganz Postkartenmotiv, aber die Richtung stimmt. An der gestrigen Entscheidung der beiden ändert das allerdings nichts. Glücklicherweise haben wir gegen Mittag einen Stopp in einer Art italienischen Biergarten eingeplant. Dort können sich die Weiterfahrer stärken und die Aussteiger aufs Shuttle freuen, das sie dann bald zum Campingplatz in Gemona zurückbringt.

Die weitere Etappe ist recht schön zu paddeln, der Tagliamento wird sanfter, nicht unbedingt weniger breit und auch nicht eindeutiger in seiner Linie, aber das bergige Umland weicht einer zunehmend flachen Ebene mit unzähligen kleinen Kiesinseln und unzähligen Vergabelungen. Schon nächstes Jahr wird das alles hier wieder ganz anders aussehen. Wildfluss eben. Am späten Nachmittag schlagen wir unser Lager auf einer länglichen Kiesinsel mit ein wenig Baumbewuchs auf. Hier gibt es genug Holz fürs Lagerfeuer, wir kochen, trinken Wein und diskutieren leidenschaftlich Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ in Bezug auf Schopenhauers berechtigter Kritik daran. Letztes ist frei erfunden. Bis zum Wein stimmt’s.

Das zweite Nachtlager am Morgen | Foto: Tobias Röckl

Die letzte Etappe ist kurz und recht entspannt. Langweilig wäre gemein, aber wir haben das Gefühl, als hätten wir an den ersten beiden Tagen die genau schönsten Etappen und Landschaften am Tagliamento erlebt. Trotz des Hochwassers. Wir wissen auch, dass dieses kleine Abenteuer auf Höhe der Ponte della Delizia zu Ende gehen wird. Man könnte noch zwei, drei Tage weiterpaddeln um bei Bibione in die Adria zu münden, aber viele Paddelberichte schwärmen nicht von der weiteren Uferlandschaft, die sehr verbaut und öde sein soll. Vor uns aber jetzt die Ponte della Delizia. Ausstieg irgendwo links. Wir versuchen, durch das Wassergewirr ans linke Ufer zu gelangen. Hier rauszukommen, wird ein Spaß. Denn auf die ganze Länge hat das Hochwasser das Ufer abbrechen lassen und wir schauen vom Boot aus auf eine zwei Meter hohe Wand aus Erde und Gestrüpp.

Mit vereinten Kräften kommen die Boote am Ausstieg wieder an Land | Foto: Ina Mayer

Der bequeme Ausstieg ist nicht mehr vorhanden. Wir versuchen uns an Ästen und Bäumen festzuhalten, während einer hochklettert. Mit Bandschlingen und gemeinsamen Kräften hieven wir unsere Kajaks hoch aufs Trockene. High Five. Tagliamento Ende. Wobei noch nicht ganz. Denn zum Treffpunkt mit unserem Shuttle an der Straße oben müssen wir die Boote erst noch durch Gestrüpp, dann durch Matsch, dann endlich auf Schotter noch, laut Google Earth, 300 Meter schleppen. Große Freude. Dann aber: Tagliamento Ende. Rückfahrt zum Campingplatz. Hier Wiedervereinigung mit unseren Aussteigern. Duschen. Dann bald Aufsatteln. Abfahrt. Arrividerci, Tagliamento. Ci vediamo.

– Tobias Röckl